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»Die Esten grübeln zu oft über ihre eigene Kleinheit«

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In der nächsten Runde der Lesereihe Literatour d'Europe. Neue Texte aus Europa liest am 9. November die estnische Autorin und Filmemacherin Katrin Laur aus ihrem demnächst erscheinenden Roman Porta Coeli. Im Interview verrät die Autorin vorab, warum ihr Roman gar nicht so ernst ist, wie es zunächst mit Blick auf die Geschichte scheint, was Deutschland und Estland miteinander verbindet und wie ihre Sicht auf den gegenwärtigen Zustand Europas ist.

Sie hat eine sehr europäische Biographie und ein schier unbegrenztes Interesse an der Vergangenheit – die estnische Regisseurin, Autorin und Professorin für Drehbuch und Dramaturgie Katrin Laur spricht sowohl mit Liebe als auch mit kritischer Distanz über ihr Geburtsland. Geboren und aufgewachsen in Tallinn, kam sie 1982 nach einem Studium der Regie in Moskau nach Deutschland. Sie hat Dokumentar- und Spielfilme gedreht, schreibt Prosa, Lyrik und Drehbücher. In den letzten Jahren hat sie sich neben der Lehre an der Kunsthochschule für Medien Köln auf die Entwicklung ihres ersten Romans Porta Coeli konzentriert, der 2018 in Estland erscheint. Die Geschichte handelt von dem deutschen Jesuiten Eduard Profittlich, der 1930 nach Estland kommt und 1941 unter der Herrschaft der Sowjets nach Sibirien verschleppt wird, wo er 1942 im Gefängnis stirbt. Am 9. November stellt Katrin Laur um 19.30 Uhr im Haus der Bildung in Bonn den Roman vor.

Kritische Ausgabe: Die Geschichte Estlands und Deutschlands ist seit Jahrhunderten miteinander verknüpft. Deutsche hatten starken kulturellen Einfluss in Estland. Wie sehen Sie den Einfluss der Deutsch-Balten auf das estnische Nationalbewusstsein?

Katrin Laur: Bis 1939 lebten Deutsche und Esten zusammen in Estland. Das kann man nicht so einfach ausradieren. Als ich nach Deutschland kam, konnte ich kaum Deutsch. Ich fing an, es intensiv zu lernen. Dabei hatte ich das Gefühl, es würde etwas zum Vorschein kommen, was ich tief in mir drin bereits wusste. Die Deutschen hatten großen Einfluss auf die Esten und umgekehrt. Es gab eine gemeinsame 700-jährige Geschichte, und dass wir diesen Anteil an unserem Volk verloren haben, hat das Land geprägt. Vor allem die gebildete Oberschicht war deutsch. Die ersten Bücher, die in Estland erschienen, waren von den Deutschen. Die Esten, die etwas auf sich hielten, lernten Deutsch.

KA: Sie haben in Moskau Regie und in München Germanistik studiert. Was hat Sie in die Länder gezogen, die so lange über das Schicksal der estnischen Bevölkerung bestimmt haben?

Laur: Nach Russland bin ich nicht gegangen, Russland ist zu mir gekommen. Die Moskauer Filmakademie war die einzige Filmschule, zu der ich gehen konnte. Ich ging mit zittrigem Herzen, aber das Studium dort war toll und wir wurden nicht ideologisch getriezt. Wir konnten wirklich Filme machen. Nach Deutschland kam ich, weil ich auf der Flucht war: Ich wollte verzweifelt raus aus der Sowjetunion. Ich hatte keine Hoffnungen in Bezug auf dieses Land und wollte nichts damit zu tun haben. Häufig schlossen die Menschen fiktive Heiraten, um ins Ausland fliehen zu können. Ich habe damals einen Studienkollegen geheiratet, aber nicht fiktiv! Mein Mann war Kolumbianer. Wir gingen nach Deutschland und ich habe politisches Asyl beantragt. Wir hatten drei Koffer, ein kleines Kind und kamen über Checkpoint Charlie. Ich war 27, hatte mein Filmschuldiplom in der Tasche und Interesse daran, die Welt zu verstehen. Und irgendwann in diesen Tagen habe ich gedacht: Ich will verstehen, wie der Nationalsozialismus unter Hitler so mächtig werden konnte.

»Der Graben zwischen mir und meiner Heimat war tief«

KA: Was hat Sie in Deutschland gehalten?

Laur: Als es die Sowjetunion nicht mehr gab, waren neun Jahre vergangen, seit ich nach Deutschland gekommen war. Meine Tochter ging hier zur Schule. Es war für mich unvorstellbar, sie in ein beinahe fremdes Land zu bringen. Allerdings habe ich mit meiner Tochter immer Estnisch gesprochen, deswegen konnte sie nach ihrem Studium selbst nach Estland gehen und dort arbeiten. Ich selbst war mir nicht sicher, was aus Estland geworden war, der Graben zwischen mir und meiner Heimat war tief. Aber natürlich war ich interessiert und fuhr wieder dorthin. Zwischen 2003 und 2006 kehrte ich zurück nach Estland, drehte dort Filme und lehrte von 2008 bis 2011 an der Filmhochschule in Tallinn. 2011 kam ich aus beruflichen Gründen nach Köln. Irgendwann habe ich festgestellt, dass mein Platz auf zwei Stühlen ist.

KA: Wie kamen Sie vom Film zur Literatur?

Laur: Ich habe Regie studiert, nicht Drehbuch, ich hatte keine Begabung für Dramaturgie. Das Drehbuchschreiben kam erst später und ich habe es mir bewusst angeeignet. Aber beim Film bist du so abhängig! Du kannst ein großartiges Drehbuch haben, aber wenn es historischer Stoff ist, stellt sich die Frage: Wer würde das finanzieren? Ich fand es mir selbst gegenüber nur fair, mich dem literarischen Schreiben zu widmen. Denn ich lege sehr viel Wert auf guten Ausdruck und ich hasse klischeehaftes Schreiben. Ich bin sehr empfindlich für das einzelne Wort. Ich bin dazu erzogen worden, meine Mutter hat mir bewusst gutes Estnisch beigebracht. Und meine Eltern waren große Redner, sie erzählten viele Witze und Geschichten, sie liebten das. Beim Schreiben meines Romans achte ich viel mehr auf meine Sprache als Dichterin: Ich kann zwischendurch auch mal etwas schreiben, das nicht logisch in den Zusammenhang passt. Das ist anders als beim Drehbuchschreiben.

KA: Nun zu Ihrem Roman Porta Coeli: Wie sind Sie auf die Geschichte des deutschen Jesuiten gestoßen, durch die Sie sich zu Ihrem Roman haben inspirieren lassen? Was hat Sie daran fasziniert?

Laur: Genau weiß ich das nicht mehr. Irgendwann während meiner Recherchen bin ich auf seine Geschichte gestoßen. Wissen Sie, in Tallinn gibt es zwei katholische Kirchen. Die Esten rühmen sich, das ungläubigste Volk der Welt zu sein. Wenn sie gläubig sind, dann sind sie meistens Protestanten. Aber während meiner Recherchen bin ich auf diesen Jesuiten aufmerksam geworden, der in Tallinn wirkte, und irgendwann wusste ich so viel, dass ich nicht mehr aufhören konnte. Zunächst habe ich ein Drehbuch darüber geschrieben, das 2013 fertig wurde. Aber ich habe schnell gemerkt, dass mir das kein Mensch finanzieren wird. Ein paar Jahre später habe ich mit dem Roman begonnen. Ich konnte diese Geschichte nicht verwerfen, dazu steckte ich zu tief drin.

»Worum es in meinem Roman geht, ist heute aktueller denn je.«

KA: Warum haben Sie ein so schmerzhaftes Kapitel der estnischen Geschichte neu aufgearbeitet?

Laur: Zehn Jahre können nicht nur schmerzhaft sein. Ich wollte die Vergangenheit aufarbeiten, ja. Aber es sind nicht zehn Jahre Leid, über die ich erzähle. Ich schreibe über die Politik, aber ich schreibe auch über Witziges und Dummes. Ich erfinde Figuren, die sich dumm und dämlich verhalten, zum Beispiel eine Frau, die einen Priester stalkt. Ich versuche das Gewebe des Lebens durch meine Figuren darzustellen, aber ich will nicht nur die Tiefen oder nur die Höhen des Lebens zeigen. Es gibt immer ein Gleichgewicht. Der Jesuit in meinem Buch war ein Märtyrer für die katholische Kirche. Er war zum Tode verurteilt worden, aber er starb im Februar 1942 an Hunger und Kälte. Trotzdem kann ich nicht durchgehend positiv über ihn und die katholische Kirche schreiben. Der Papst hat ihn im Stich gelassen, denn er gab ihm keine Anweisung, Estland zu verlassen. Der Jesuit konnte das nicht selbst entscheiden, nicht gegenüber seiner Kirche, und weil in Europa sowieso alle verrückt geworden waren. Aber ich glaube nicht, dass er ein Märtyrer werden wollte.

KA: Steckt in Porta Coeli eine europäische Botschaft?

Laur: Ja, selbstverständlich, wenn man etwas über die Vergangenheit schreibt, will man immer verstehen, wie sie mit unserer heutigen Zeit zu verknüpfen ist. Worum es in meinem Roman geht, ist heute aktueller denn je: Jemand kommt in ein Land, dessen Sprache er nicht beherrscht und in dem er niemanden kennt. Wie kommt der Jesuit mit den Esten, Russen, Deutschen und seinen internationalen Kollegen klar? Welche unterschiedlichen Sprachen und Mentalitäten treffen dort aufeinander? Das alles spielt eine große Rolle. Sich ein neues Zuhause zu suchen und als Weltbürger zu verstehen, das hat viel mit dem heutigen Europa zu tun. Die Gefühle von Fernweh und Heimweh, wie sie heute viele Menschen verspüren, müssen auch in Eduard Profittlich gewesen sein.

KA: Welche Rolle spielt Estland Ihrer Meinung nach in der EU? Sollte es eine wichtigere Rolle spielen?

Laur: Estland ist ein sehr kleines Land. Aber die Esten verhalten sich diesbezüglich oft dumm, sie grübeln zu oft über ihre eigene Kleinheit. Vielleicht kann der Elefant mehr bewegen als die Maus, aber beide sind Lebewesen. Jeder Einzelne ist gleich wichtig. Die kleinen Länder sollten sich durchaus trauen, ihren Standpunkt zu vertreten und ihre Geschichte darzustellen. Estland muss für sich und für andere seine Geschichte verständlich erzählen. Es hat viel zu erzählen, denn die Überlebensfähigkeit ist eine große Fähigkeit der Esten. Dieses Volk musste sich oft verstecken, aber hat sich dadurch auch selbst erhalten.

KA: Wir danken Ihnen für das Gespräch!

Die Kritische Ausgabe begleitet die Lesereihe »Literatour d’Europe. Neue Texte aus Europa« des Literaturhauses Bonn und der Vertretung der Europäischen Kommission in Bonn als Medienpartner und knüpft damit an ihr langjähriges Engagement bei der Lesereihe »Reading Europe. Neue Autoren aus Europa« an, die von 2006 bis 2013 in Bonn ebenfalls regelmäßig europäische Autoren präsentierte.


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